Was war das wieder für eine wunderbare Woche! Wir brechen am Samstag, dem 18. September, pünktlich um 8 Uhr bei noch zögerlicher Sonne auf, wobei der Himmel immer blauer wird, je weiter wir Richtung Süden kommen. Toll, die Wettervorhersage hat sich mal wieder geirrt!
Mitten am Nachmittag sind wir schon in Saint-Rémy-de-Provence und dort findet unser Navi die angegebene Adresse erstmal nicht, denn zwischen der „Voie Aurélia“ und der „Voie aurélienne“ hat sich der arme Kerl verfahren…. Zum Glück erwarten uns unsere Gastgeber, Annie und Daniel, und führen uns zu unserer schönen Ferienwohnung. Noch nie sind wir in einem Mietobjekt so herzlich empfangen worden!

Daniel, ganz Ritter, hat für uns getrockneten Lavendel gepflückt, der wunderbar duftet. Annie überrascht uns mit frischem Wasser und Aprikosen-Lavendel-Marmelade im Kühlschrank. Sie haben sogar an das Fernsehprogramm gedacht und, hurra, endlich haben wir mal genug Haken im Bad und verschiedenfarbige Handtücher. Es sind diese kleinen Dinge, die einen Aufenthalt so angenehm machen. Die farbigen Decken und Kissen wirken frisch und fröhlich, das Paar malt selber die Bilder, die an den Wänden hängen. Annie gibt uns wertvolle Tipps, den Stadtplan in der Hand: für den einzigen kostenlosen Parkplatz im Zentrum, den besten Delikatessen Laden, die kleine Wanderung direkt vor unserer Haustür, den Markt am Montag (wo die Läden in St. Rémy geschlossen sind), das Schloss in der Nähe von Les Baux, das man besuchen sollte… Eine wirklich außergewöhnliche Adresse!
TAG DES KULTURERBES
Am Sonntag Morgen gehen wir auf einem hübschen kleinen, fast privaten Weg in die Stadt – eine streitsüchtige Dame hat sogar versucht, ihn sich anzueignen, zum Glück vergeblich! – um zwei Gebäude zu besichtigen, die wir bei unserem ersten Aufenthalt vernachlässigt hatten. Zuerst das HÔTEL DE SADE im extravaganten gotischen Stil, das 1513 für Balthazar de Sade (ein entfernter Vorfahre des berühmten Marquis) erbaut wurde.

Ich erfahre, dass ein GLANUM – das mein Lateinlehrer im Berliner Gymnasium total vergessen hatte zu erwähnen, da er vom „Bellum Gallicum“ förmlich besessen war, während ich ihn von ganzem Herzen hasste – eine gallische Stadt ist, die in der Nähe heiliger Quellen gegründet wurde. In der Tat entdecken wir auf dem Gelände, das diese Villa umgibt, ein römisches Schwimmbad… denn seit der Zeit des Kaisers Augustus ging die Romanisierung der Provence gut voran.
Das zweite Herrenhaus – diesmal Renaissance – trägt den hübschen Namen „Mistral de Mondragon“, der mit Vornamen Paul hieß und dort als Kind lebte.

Dieses Museum beherbergt heute die ethnologische Sammlung der Stadt. Was mich bei diesem Besuch bewegt, sind zwei Dinge, die verschwunden sind: erstens, der Beruf des Weißblechherstellers. Als ich Kind war, waren die Gießkanne im Garten, die Eimer und die Waschschüssel aus diesem Material, aus Weißblech – vor der Invasion des Plastiks. Und dann ist da noch die Ulme, die mehrere hundert Jahre alt und krank war, bevor sie 1927 gefällt werden musste. In diesem Museum wird nicht nur ein Querschnitt des Stammes aufbewahrt (leider ist mein Foto verwackelt), sondern ein lokaler Maler zeichnete ihr Porträt, bevor sie gefällt wurde. Für die Ewigkeit…

Als wir ins Freie treten, sind die Straßen voller Menschen, und wir setzen uns zu einem kühlen Radler auf die Terrasse eines kleinen Bistros von dem aus wir einen guten Blick auf die Passanten werfen können.

Einige von ihnen sind sehr elegant gekleidet und das gefällt mir gut, denn heutzutage ist das leider selten.
FONTVIEILLE
Klar, die Stadt ist berühmt wegen der „Mühle“ von Alphonse Daudet, obwohl der seine legendären Briefe dort gar nicht geschrieben haben soll. Wir haben sie schon vor Jahren besichtigt und sind an diesem Montagmorgen sehr viel mehr am örtlichen Markt interessiert. Es ist nicht sehr groß, aber was für eine Auswahl!

Vor allem beim Gemüse: Alles ist Bio, sämtliche Produzenten kommen aus der Umgebung und es ist eine Freude, Tomaten, Paprika und Zucchini für die nächsten Tage auszuwählen. Ganz zu schweigen vom Knoblauch, süßen Zwiebeln, Oliven … und das alles zu einem Spottpreis: mehr als ein Kilo dieser Tomaten plus ein Pfund winziger zarter Paprika für nur 4 €!
Wir setzen unseren Weg fort, umfahren Arles (das wir uns für einen anderen Tag aufheben) und kommen in eine Stadt, die uns unsere Freunde empfohlen haben.
AIGUES-MORTES
Gut, dass es wir nach Mitte September kommen, denn in der Hochsaison muss es hier furchtbar voll sein. Wir finden gerade noch einen Platz auf dem vorletzten Parkplatz.

Sofort sind wir von der Anlage begeistert, den unglaublichen, von Ludwig IX. errichteten Festungsmauern – 1,6 km, wenn man auf ihnen einmal ums Karree gehen will – und dem schönen großen Platz mit seiner Statue. Er wurde später für heilig erklärt.

Nachdem wir eine Flasche „Sandwein“ gekauft haben, die wir heute Abend probieren werden (der wächst hier tatsächlich auf Sand!) verspeisen wir ein leckeres Sandwich unter einer Maulbeer-Platane. Diese wird im Süden sehr geschätzt für ihren Schatten – sogar heute haben wir satte 27 Grad ! Danach gehen wir am Kanal spazieren und entscheiden – mit ein wenig Bedauern meinerseits – keine Kreuzfahrt auf den Camargue-Kanälen zu machen, weil wir noch bis GRAU DU ROI fahren wollen, um das Meer zu sehen.


LE GRAU DU ROI
Das Wort „grau“ („gro“ gesprochen) stammt vom lateinischen „gradus“ ab und bedeutet im Okzitanischen „Durchgang“. Dieser Grau diente seit der Herrschaft von Saint Louis als Durchgang zwischen dem Meer und Aigues Mortes.
Es ist sehr angenehm, an den Kais entlang zu schlendern, um den alten Leuchtturm und das Meer zu erreichen. Diese riesige Bucht mit den Hotelburgen der GRANDE MOTTE im Hintergrund inspiriert uns allerdings nicht sonderlich. Aber der Blick geht weit…und das ist sehr schön.

RUNDGANG VAN GOGH
Dienstagmorgen lassen wir das Auto stehen und gehen auf der ÄLTESTEN Straße Frankreichs spazieren, der VIA DOMITIA, die durch St. Rémy führt

und uns eine schöne Aussicht über das Tal, die Weinberge und die Olivenhaine bietet.

Am Mausoleum von St. Paul angekommen, genießen wir wieder den „Spaziergang in der Welt des Vincent van Gogh“ und halten diesmal an, um alle Briefe zu lesen, die der Maler an seinen Bruder und seine Mutter geschrieben hat.

Es ist zum Beispiel herzzerreißend zu lesen, dass
die Natur hier mich so blendet und bewegt, dass ich manchmal zwei Wochen lang nicht arbeiten kann
Er schreibt, dass es ihm schwer fällt, Zypressen und Olivenbäume zu malen…. Kaum zu glauben, weil er es so wunderbar kann !

DER MEISTER DER PROVENCE
Nach einem kleinen Besuch auf dem Markt von St. Rémy fahren wir nach Les Baux-de-Provence.

Sobald wir die Carrières de Lumière betreten, sind wir einmal mehr von der Größe der Räumlichkeiten beeindruckt und vom Werk Cézannes überwältigt. Es ist kaum zu glauben, dass dieser „Meister der Provence“ Autodidakt war. Das Gegenteil von van Gogh. Der Anfang des Films ist bereits großartig und sehr überzeugend. Die Inszenierung der drei Italiener Gianfranco Ianuzzi, Renato Gatto und Massimiliano Siccardi – ebenfalls Meister! – ist fantastisch: die Musik, die sie für jedes Thema auswählen, egal ob es Früchte, die Landschaft von Aix, die einfachen Leute sind: alles fasziniert uns. Der Film ist ein Werk für sich!

Wir bleiben anderthalb Stunden lang und schauen uns alles zweimal staunend an – dies ist einer der Höhepunkte unserer Woche.
DER BOTANISCHE PFAD
Heute lassen wir unser Auto auf dem Parkplatz LA CAUME oberhalb von St. Rémy stehen und begeben uns auf einen richtigen Wanderweg. Am Anfang geht es ganz schön steil bergauf und wir versuchen noch, die Hinweise auf den kleinen Schildern mit Zeichnungen zu verstehen. Sehr schnell geben wir aber auf, weil wir die Pflanzen nicht erkennen…. und die Aussichten auf die Ebene und den LUBERON in der Ferne viel schöner sind!

Auf dem Rückweg stoßen wir auf die hübschen blauen Blüten der wilden Zichorie, die „WEGWARTE„. Der Name entstammt einer schöne Legende aus dem HARZ, wo ich meine Kindheit verbracht habe:
Der Graf von Ballenstedt hat eine wunderschöne blonde Tochter mit sanften blauen Augen. Alle Adligen der Gegend machen ihr den Hof, aber ihr Herz entscheidet sich für einen der Stallburschen ihres Vaters. Wütend verjagt der Vater den Liebhaber seiner Tochter unter dem Vorwand, er müsse seinen Militärdienst ableisten – pardon, in den „Heiligen Krieg“ gegen die Mauren ziehen! In den traditionellen blauen Mantel gekleidet, macht sich der junge Mann tapfer auf den Weg, nicht ohne seine Liebste mehrmals zu küssen, die ihn bis zur WEGkreuzung begleitet. Seine Geliebte verspricht ihm, hier treu auf ihn zu warten, bis er zurückkehrt, und – sobald er aus ihrem Blickfeld verschwunden ist – sagt sie diese Zauberworte:
Werde nie ohne ihn nach Hause gehen, lieber am Wegesrand ewig stehen.
Und bevor ich lass das Weinen sein, werd‘ ich lieber ein Feldblümelein!

Und da steht sie nun für immer – ach, l’amour toujours….!
ARLES UND EYGALIERES
Schon der letzte Tag, Himmel das geht mal wieder viel zu schnell! Nach einem kurzen Zwischenstopp auf dem Markt von Fontvieille befinden wir uns in Arles, am Fuße des LUMA, dem Turm, den man schon von weitem als Leuchtturm der Kultur erkennt.

Wir sind angenehm überrascht, denn der Eintritt ist frei und wegen der Pandemie sind nur sehr wenige Leute da. Schon die Halle fasziniert durch die Edelstahl-Ziegel, von denen es 11.500 im Außenbereich gibt.

Es ist sehr beeindruckend, die „perlmuttartigen“ Ziegel in Bodennähe zu sehen, grau wie die Nordsee weiter oben und blau auf der anderen Seite. Franck Gehry, der uns in einem Film über das Wie und Warum dieses Werks berichtet, sagt ganz nüchtern:
Das Licht hier ist ein Geschenk der Götter – ich musste es nur einfach nutzen
Es ist faszinierend, diesem 92-jährigen Mann zuzuhören, der 20 Jahre jünger aussieht und der seine „Partnerin“ Maja Hoffmann dafür lobt, dass es ihm Spaß gemacht hat, mit ihr Hand in Hand zu arbeiten. Auf der Website dieser Dame steht unter der Rubrik „Beruf“ in aller Einfachheit: Mäzenin! Das ist schön. Und es ist edel, weil sie sich weigert, genau zu sagen, wie viel das Werk sie gekostet hat. Es wird gemunkelt, dass das Budget von 100 MILLIONEN Euro weit überschritten wurde. Wenn sich Geld mit kreativem Genie und Fachwissen paart, kann das Ergebnis nur atemberaubend sein.

Wir gehen auf eine der Terrassen – keine geht um das ganze Gebäude herum, und das ist so gewollt, genau wie das einzige kleine Fenster im ebenfalls von Ghery erbauten VUITTON-Museum in Paris, von dem aus man den Eiffelturm sehen kann.

Hier wird deutlich, dass die Wahl des Standorts kein Zufall war: Maja Hoffmann wollte mit ihrem Campus nach amerikanischem Vorbild eine Brücke schlagen zwischen dem historischen Zentrum mit seinem antiken Theater und Zirkus, seiner wohlhabenden Bevölkerung und „den Anderen“, die weiter entfernt wohnen und durch die Bahnlinie vom Zentrum getrennt sind. Sie schwärmt von diesem Ort, den sie als
Laboratorium, in dem man die Freiheit hat,
zu suchen, Fehler zu machen und neu anzufangen
verstanden wissen will. Das gefällt mir sehr.

Zurück in der Lobby bewundern wir auch die sehr femininen Rundungen der architektonischen Details. Und wir bedauern es schon jetzt, die untergehende Sonne, die den Turm mit tausend Lichtern schmückt, nicht genießen zu können. Aber auch so ist er, im mittäglichen Sonnenlicht, sehr schön.

Es wird richtig heiß und wir finden einen schattigen Tisch für eine Focaccia vor einer Bäckerei. Danach geht es in die Altstadt und dort bewundern wir zwei Akrobaten, die im antiken Theater trainieren.

Gegenüber dem Theater stehen einige schöne Häuser, und ich frage mich, wie es wohl wäre, in dieser passenden Umgebung Jean Anouilhs Stück „Antigone“ (das mich mit 16 Jahren so beeindruckt hat, das ich meine erste und einzige Kritik schrieb, die sogar in der Braunlager Zeitung abgedruckt wurde) vom Fenster oder Balkon aus zu sehen.
Ein wenig weiter hören wir Jubel im antiken Zirkus, wo man es für eine gute Idee hielt, tonnenweise Sand heran zu schaffen, damit die Kinder „Beach-Volley“ spielen können, hrrm…

Wir sind allmählich ein bisschen müde, aber diese Stadt ist wirklich mehr als einen Besuch wert und wir werden sicher ein anderes Mal wieder kommen.

Für heute haben wir aber noch eine letzte Etappe vor uns..

Ein letztes Mal überqueren wir unsere geliebten Alpillen und kommen zum Parkplatz von EYGALIERES, wo eine fröhliche Menge ein Boule-Turnier spielt. Ich werde ein wenig blass beim Anblick dieses sehr hübschen Dorfes, das auf einem Hügel thront, den wir erklimmen müssen…. bis zur Marienstatue, das ist klar.

Also beiße ich die Zähne zusammen und halte durch ! Der herrliche 360-Grad-Rundblick, den wir von dort oben haben, belohnt mich reichlich, und ich danke meiner besten Freundin, die mit Ermutigung nicht gespart hat, damit ich es schaffen konnte. Es ist ein schöner Abschluss eines wunderbaren Tages!

48 Stunden später bin ich wieder am Montmartre. Ich habe viele Bilder und Farben in meinem Kopf und betrachte mit Freude das aus der Provence mitgebrachte Gemüse, sowie die Blumen aus unserem Garten in Saint Maur – ein Stillleben, das fast so schön ist wie eins von Cézanne…!